Andreas Leikauf

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Andreas Leikauf, Read in Case of Emergency

Andreas Leikauf ist bekannt für ausdrucksstarke Bilder, die mit plakativen Motiven und einprägsamen Slogans den Zeitgeist in den Blick nehmen, wie er sich in Film, Mode, Musik und Lifestyle manifestiert. Er hat sich über die Jahre einen unverwechselbaren Stil erarbeitet, bei dem er auf einem mehr oder weniger leuchtenden Farbton mit mattschwarzer Dispersion ausgewählte Szenen unserer visuellen Kultur zur Darstellung bringt. Immer fügt er dem Bildgeschehen eine Phrase, einen Slogan oder einen Aphorismus bei, was zu einer Art Markenzeichen geworden ist. Dadurch entsteht eine Bild-Text-Relation, die ein Narrativ evoziert, das so assoziativ wie rätselhaft, so offen wie hermetisch ist. Gerade im Kontext des narrativen Moments seiner Bilder wurden immer wieder Film und Musik als Referenzen bemüht und es scheint bezeichnend, dass das letzte Album der Band Mopedrock, bei der er für Gitarre und Violine verantwortlich zeichnete, den Titel Virage trägt.

Virage
Die Monochromie und die spezifische Darstellungsweise von Leikaufs Bildern erinnern an den frühen Stummfilm, der bereits in seiner Anfangszeit Farbe als ästhetisches und dramaturgisches Stilmittel eingesetzt hat. Dabei wurde der Schwarzweißfilm in ein Farbbad getaucht, um den einzelnen Szenen sowohl eine einheitliche Grundstimmung zu geben, als auch eine spezifische Atmosphäre zu verleihen. Diese so genannte Virage hat sich zunächst an der Farbgebung realer Umgebungen bzw. Atmosphären orientiert, so stand zum Beispiel Blau für die Nacht, Grün für die Natur oder Gelb für Innenräume, aber Farbe wurde auch auf signifikativer Ebene eingesetzt, so signalisierte Rot beispielsweise auch Gefahr oder Liebe. Die Bandbreite der Möglichkeiten wie Farbe im Film die Atmosphäre, den Raumeindruck oder den Charakter einer Handlung verändern konnte, lässt sich exemplarisch an der restaurierten Fassung von Robert Wienes Meisterwerk „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920) erleben, wenn zum Beispiel zu Beginn des 4. Aktes die weibliche Protagonistin Jane beunruhigt über das lange Ausbleiben des Vaters alleine in ihrem Zimmer gezeigt wird und diese kurze Szene ganz in Rot getaucht ist.

Die Farbtöne der Virage passen sich ähnlich wie in den Gemälden von Leikauf (auch) den Gemütslagen der Protagonisten an. In seinem Bild One more party wird durch das dunkel leuchtende Rot die Atmosphäre einer nächtlichen, schwülen, leicht erotischen Szenerie gezeichnet, doch in der Verbindung mit dem kühlen, leeren Blick der Protagonistin ruft der Farbton zugleich eine gewisse Bedrängnis und Unruhe hervor: eine Frau sieht rot. Dem Regisseur geht es wie dem Künstler um die emotiv-affektive Assoziativität, wie Farben im Denken Bilder und Vorstellungen entstehen lassen und welche emotionalen Erlebnisqualitäten damit verbunden sind. Zugleich prägen Farbempfindungen auch unsere Raumwahrnehmung und vermögen durch nuancierte Tonungen, fast im Sinne einer Patina, bestimmte historische Zeiten zu evozieren. So wirkt die hagere Frau auf dem Bild No message and no meaning durch ihren trotzig-provokativen Blick und den markanten Ockerton der Farbgebung als wäre sie in der Zeit der Großen Depression von der Farm Security Administration (FSA) durch Fotografen wie Walker Evans, Dorothea Lange oder Arthur Rothstein porträtiert worden, obgleich die Vorlage zu dem Gemälde sicher aus einer aktuellen Lifestyle-Zeitschrift stammt. Leikauf stellt dadurch nicht nur kunsthistorische, sondern vor allem auch gesellschaftspolitische Bezüge her und fragt subtil nach der Relevanz des Vergangenen für die Gegenwart und nach den Konsequenzen, die daraus abzuleiten wären. Die Virage, die Tonung ist seine Methode, Raum- und Zeitverhältnisse zu aufzuschließen und emotional zugänglich zu machen. Sergej Eisenstein hat die Farbe mit der Musik im Film verglichen und dadurch einerseits ihre Dynamik hervorgehoben, aber andererseits auch ihr Potenzial zur kontrapunktischen Setzung unterstrichen. Farbe ist eine Funktion des Inhalts.

Zwischentitel
Leikauf arbeitet nicht nur mit einem Vokabular von gefundenen und halb-erinnerten Bildern von Bildern, sondern auch mit einer Textebene, die poetisch, philosophisch oder banal sein kann. Seine Slogans und Sentenzen erscheinen auf T-Shirts, Karten, Mauern, Plakatwänden, Mobiliar, Autos oder wirken wie beiläufig in den indifferenten Bildraum gesetzt. Nun könnte man in Analogie zum Stummfilm anführen, dass die Schrift in der frühen Kinematographie kein Eigenleben führt, sondern in Form von Zwischentiteln sorgfältig von den bewegten Bildern getrennt bleibt. Was die Protagonisten und Protagonistinnen zu sagen haben, steht auf der Schrifttafel, die der Bildsequenz folgt und nicht in der Bildfolge selbst. Ausnahme bilden die Inserts, Schriftstücke wie Zettel, Briefe, Telegramme, Ankündigungen, Haftbefehle, Testamente oder Zeitungen, die einen integralen Teil der filmischen Erzählung bilden. Doch in einigen der wegweisenden Filme tritt Schrift über die Zwischentitel und Inserts hinaus ganz konkret in Erscheinung. Am Ende des 5. Aktes von „Das Cabinet des Dr. Caligari“ geht der Anstaltsdirektor/Caligari bei Nacht durch eine Gasse – eine Szene, die entsprechend blau eingefärbt wurde – und in den Bäumen sowie auf der Hausmauer erscheint wie von Zauberhand der Schriftzug „Du musst Caligari werden“. In Fritz Langs Dr. Mabuse, der Spieler (1922) erscheinen schon zu Anfang magische Lettern auf einem Spieltisch, die rätselhafte Befehle verdeutlichen. Gegen Ende des Films wird der Staatsanwalt Wenk von Dr. Mabuse hypnotisiert und erhält den Befehl, in Trance zum Steinbruch Melior zu fahren und sich dort mit dem Wagen in den Abgrund zu stürzen. Der Schriftzug „MELIOR“ist sowohl spiegelverkehrt auf dem Kühler des Autos zu lesen, als er auch mehrmals diagonal entlang der Straße ins Bild zieht. Würde man einen Frame aus dieser Szene nehmen, so hätte man das Bild eines Autos, das bei Nacht durch eine Allee fährt, auf deren Bäumen in großen Lettern das Wort „MELIOR“ zu lesen ist. Die Humanisten würden den Eigennamen als den lateinischen Komparativ von bonus lesen und sich fragen, was genau „besser“ sein soll. Und im Nu hätte man eine Bild-Text-Relation, die eine Narration im Kopf des Betrachters auslöst und ähnlich komponiert ist wie das Gemälde It happened again von Leikauf.

Im Unterschied zu den Bildern des Künstlers, ist die Schrift im Stummfilm integraler Bestandteil der Erzählung und die Protagonisten sehen die Schriftzeichen und agieren bzw. reagieren entsprechend. Leikaufs Bildhelden hingegen nehmen die Texte in ihrer Umgebung und die frei um sie herum flottierenden Worte nicht wahr und geben sich unbeeindruckt ihrer Introspektion hin. Die Slogans erscheinen manchmal wie ein ambivalenter Kommentar zu dem Bildgeschehen und gleichen andermal Sinnsprüchen, die im Zusammenhang mit dem Bild ambivalente Inhalte entfalten, von denen man aber nie genau sagen kann, in welcher Weise sie sich auf das Gezeigte beziehen.

Montage
Sergej Eisenstein hat in seiner Dramaturgie der Film-Form (1929) postuliert, dass der Konflikt das Grundgesetz aller Kunstwerke sei. Dementsprechend hat er sich sowohl mit dem Konflikt innerhalb eines Bildes, als auch mit den einzelnen Bildelementen auseinandergesetzt. Er war davon überzeugt, dass die einzelnen Bildelemente mehrdeutig sind und erst durch die Montage ihre spezifische Deutung erfahren. Leikauf entreißt gefundene Bilder ihrem ursprünglichen Kontext, um ihnen durch eine neue und monochrome Farbgebung und einen beigefügten Slogan eine veränderte Bedeutung zu geben. Durch den Kulešov-Effekt wissen wir, dass potentiell verschiedenartige Bedeutungen in jedem Bildelement enthalten sind und eine von ihnen durch den jeweiligen Kontext aktiviert wird. Auch wenn Leikauf jedes Motiv nur einmal verwendet, erfährt man durch seine Werke das Verständnis, dass die gleiche Person mit einer anderen Farbgebung und einem anderen Zitat zu einer völlig anderen Wahrnehmung und Deutung führen würde. Montage ist nicht ein aus nebeneinandergestellten Elementen zusammengesetzter Gedanke, sondern ein Gedanke, der im Zusammenprall zweier voneinander unabhängiger Elemente entsteht.

Schneidetisch
Nicht mehr eine Abfolge von Einzelbildern wird am Schneidetisch geschnitten und in die richtige Reihenfolge gebracht, sondern das Schneidebrett selbst wird zum Bild. Leikauf bezieht sich mit seiner Serie der Schneidbretter mit Augenzwinkern auf mehrere kulturhistorische Traditionen. Zum einen ist die Form des Tondo verbunden mit der Hochphase der Florentiner Renaissancemalerei. Meisterwerke der Kunstgeschichte von Sandro Botticelli, Fillippino Lippi oder Raphael kommen einem in den Sinn, wenn man an die ehrwürdigen Rundbilder denkt. Zum anderen ist der Tondo eine Bildform, die primär für den privaten Haushalt geschaffen worden ist und Holz war bis ins frühe 16. Jahrhundert auch das vornehmliche Material des Bildträgers.

Das einzige gesicherte Tafelbild aus der Hand Michelangelos ist ein Tondo und genüsslich scheint Leikauf die berühmte Handbewegung Gottvaters bei der Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle in einen appellierenden Fingerzeig zu transformieren. „Schau Dir das an!! Ein ordinäres Schneidebrett! So weit ist die Tafelmalerei gekommen! Die hohe Malereitradition wird auf die elementare Ebene des Broterwerbs heruntergebrochen. „Was macht die Kunst?“ fragt der Prinz den Hofmaler Conti in Lessings Trauerspiel Emilia Galotti. „Prinz, die Kunst geht nach Brot!“ Leikauf hat in seinem Schaffen immer wieder auf banalen Alltagsgegenständen gemalt. Er hat Schlagzeilen auf Plakaten verfälscht, Konservendosen mit neuen Etiketten ausgestattet, und Geldscheine mit neuen Köpfen und originellen Beträgen versehen. Nun hat er sich sprichwörtlich eine brotlose Malerei vorgenommen.

Filmriss
In den neuesten Arbeiten hat Leikauf Fragmente von unterschiedlichen Bildern, die wie gerissene Abbildungen aus Zeitschriften aussehen, auf großformatige Leinwände gemalt. Im Unterschied zur Collage, sind die gefundenen Abbildungen nicht aus echtem Papier und affichiert, sondern mit dem Pinsel detailgenau gemalt. Man könnte, um die Analogie zum Stummfilm zu strapazieren, vom Filmriss sprechen. Wenn früher im Kino der Film auf der Rolle riss, was in den Anfangszeiten der Kinematographie noch häufiger vorkam, wurde die Leinwand schwarz bis das Problem behoben, der Riss geklebt und die Erzählung fortgesetzt werden konnte. Sämtliche Arbeiten von Leikaufs neuen Serie zeigen die Bildfragmente auf tiefschwarzem Hintergrund. Der Cineast mag an den dunkeln Kinosaal denken, der Kunsthistoriker an die Tableaus von Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas, Otto Normalverbraucher an das schwarze Loch im Gedächtnis, den sprichwörtlichen Filmriss, der sich nur allzu oft nach übermäßigem Alkoholkonsum einstellt, wenn nur mehr Bruchstücke eines Geschehens erinnert werden könnte. Die Bildtitel lesen sich auch wie die Anstrengungen, den Erinnerungsfetzen am Tag danach, dem vielbeschworenen Hangover, einen zusammenhängenden Sinn zu geben. I went back but there was nothing. Maybe there was a connection. We tried to fix the storyline. Der Versuch, die Bildfragmente zu einem homogenen Ganzen zusammenzufügen, scheitert, denn es handelt sich nicht um Schnipsel eines einzigen Bildes, sondern um verschiedene Ausgangsmotive. Man sucht nach einem Zusammenhang, einer verbindenden Klammer, doch es ist gerade die Juxtaposition des inhomogenen Bildmaterials verbunden mit dem jeweiligen Slogan, die ein Narrativ hervorrufen. Zugleich erscheinen die Phrasen wie Kommentare von einem Betrachterstandpunkt zweiter Ordnung, als würde der Künstler selbst seiner Verwunderung über die unzusammenhängende Darstellung Ausdruck verleihen. I don’t know who they are, schreibt er zu den auseinandergerissenen Abbildungen verschiedener Personen, oder Do we need all those flowers zu einem Blumenstillleben der anderen Art. Wer spricht, und vor allem, zu wem?

Wie schon beim Tondo, der durch seine runde Form mit Harmonie und Vollkommenheit verknüpft wird, die durch das reale Schneidebrett desavouiert werden, und den gemalten Collagen, die aus zerrissenen Bildern von Bildern komponiert sind, scheint Leikauf auch bei den Missing Pieces auf die Unmöglichkeit von Perfektion und Geschlossenheit eines Systems anzuspielen. Ein wesentliches Element zur Vervollkommnung eines Bildes, einer Geschichte, eines Lebens scheint immer zu fehlen. Das berühmte Puzzle-Teil, das immer fehlt, um das Rätsel lösen zu können.

In den Gemälden des letzten Jahres scheint sich ein Bewusstsein Bahn zu brechen, oder zumindest die Vorstellung zu manifestieren, dass wir nur kleine Teilchen in einer großen Erzählung sind, deren Zusammenhang und größeren Kontext wir nicht kennen. Konfrontiert mit Leerstellen, Rissen und Brüchen manövrieren wir uns durch einen gesellschaftlichen Kosmos, der eintönig ist und von einer indifferenten Dunkelheit umfangen wird. Wir scheinen gefangen in unseren Rollen, die wir in der Gesellschaft spielen wollen und sollen und wie die Figuren in einem Stück von Anton Tschechow suchen wir stetig das Glück und finden nur Enttäuschung und Resignation. Wir geben uns einer Art popkulturellem Fatalismus hin, der sich in rebellischen T-Shirts und Musikvideo-Attitüden äußert, aber nie in die Nähe von Non-Konformismus oder echter Rebellion kommt: They don’t like me, I don‘t care. Die zeitdiagnostischen Bilder von Leikauf sind aber dabei niemals resignativ oder kulturpessimistisch, denn wie es im titelgebenden Gemälde so treffend heißt: Sometimes we fall, sometimes we float.

Roman Grabner, 2019